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XIX.

Begriff, Ziel und Methode der Geographie und
v. Richthofen's China, Bd. I.

Von Dr. F. Marthe.

Einem Werke gegenüber, das gross gedacht und durchgeführt ist, geziemt es sich, auch einen weitern, allgemeinern Standpunkt der Besprechung einzunehmen. Ueberdies enthält dasselbe den directen Anreiz zu einer solchen Betrachtungsweise. Die letzten Seiten desselben sind einer Erörterung des Begriffs und der Aufgaben der Geographie gewidmet, sie zeichnen gewissermassen, wie am Fuss einer Karte, den Maasstab, nach dem das Ganze gewerthet und verwerthet sein will. Wenn darin eine Herausforderung an alle diejenigen liegt, die über die theoretische Seite unsrer Wissenschaft gedacht haben, so nehmen wir dieselbe um so lieber auf, da wir seit längerer Zeit an einem Beitrag zur Lösung der hierbei in Betracht kommenden Fragen arbeiten. Versuchen wir es also, eine oft erhobene und in buntester Mannigfaltigkeit beantwortete Frage hier zu stellen, die Frage: Worin liegt das eigenartige Wesen der Geographie, das sie als Wissenschaft von andern Wissenschaften abscheidet?

I.

Die Unterscheidungsmerkmale eines als besondere Wissenschaft constituirten Zweiges menschlicher Erkenntniss können nur zweierlei Art sein, entweder materiale oder formale, d. h. sie liegen entweder in dem Stoff, der bearbeitet wird, oder in der Art, wie er bearbeitet wird. Fragen wir zunächst: Hat die Geographie einen ihr eigenthümlich zugehörigen Gegenstand des Wissens und Erkennens, und welchen? Den ersten Wink hierüber scheint ihr Name zu geben. Sie hat mit der Erde zu schaffen. Aber wie? Ist es diese als Ganzes, ohne Rücksicht auf etwaige Theile, mithin als Ganzes schlechtweg? Nun sicherlich kann Niemand Geograph sein, ohne von der Gestalt, Grösse, Dichtigkeit, den Bewegungen der Gesammterde etc. unterrichtet zu sein. Aber diese ist in dieser Beziehung nichts anderes als nach Herder's vielberufenem Ausdruck ein Stern unter Sternen, und seitdem die Sternkunde zu einer selbständigen, grossen Wissenschaft herangewachsen ist, fällt alles, was den Erdplaneten in seiner Gesammtheit anbetrifft, einzig und allein dieser anheim, kann und muss zwar Lerngegenstand des Geographen sein, nicht aber specifischer Lehrgegenstand der

Geographie, gerade wie die Anatomie des menschlichen Körpers vom Physiologen oder Pathologen und deren Schülern zwar gekannt oder gelernt wird, nicht aber der unmittelbare Zweck ihrer Lehre ist. Es klingt paradox und ist doch wahr: Die Erde als theillose Einheit ist bei dem Stande der wissenschaftlichen Arbeitstheilung, wie er nun einmal geworden ist, nicht das Specificum der Erdkunde. Die sogenannte astronomische Geographie mag daher auf Schulen und in populären Handbüchern als integrirender Bestandtheil der Geographie angesehen und behandelt werden, die wissenschaftliche Auffassung der letzteren, die darauf hält, auf eigenem Grunde zu wohnen und zu bauen, muss jene einfach Voraussetzen.

Nun aber besteht die Erde aus Theilen, grossen und kleinen, der mannigfaltigsten Art. Vielleicht ist sie, nicht als Ganzes schlechtweg, sondern als Ganzes, das aus Theilen zusammengesetzt ist, Studium der Erdkunde; das thatsächliche Kennen dieser Theile einerseits und das Erkennen ihrer ursächlichen Verhältnisse andrerseits würde dann die elementare und die höhere wissenschaftliche Stufe dieses Studiums darstellen. In der That hier scheint sich sofort, was wir suchen, gefunden zu haben: ein specifischer Stoff für eine specifische Wissenschaft. Denn durchmustern wir den ganzen blüthen- und blätterreichen Ehrenkranz menschlicher Wissenschaften, wir sehen jede, soweit sie auf Objecte der unmittelbaren Sinneswahrnehmung gerichtet sind, auf ein irgendwie begrenztes Gebiet der irdischen Sinnenwelt sich concentriren. Der Platz für eine solche dagegen, die alle Sondergebiete des sinnlich stofflichen Erdendaseins, das Ganze in seinen Theilen umspannen würde, ist vollkommen frei, und wer anders sollte ihn einzunehmen berufen sein, als eine Wissenschaft, die den stolzen Namen Erdkunde trägt? Noblesse oblige. Zwar bei genauerer Sicht entdecken wir eine Wissensart, die gleichfalls des gesammten Erdenstoffes sich bemächtigt und daher mit allen von stofflichen Erdendingen handelnden Wissenschaften Fühlung hat, die Chemie, aber wie doch? Nicht nimmt sie ja die Dinge, wie sie in unübersehlicher Formenfülle wirklich sind, sondern zerschlägt sie künstlich in wenige, freilich allerdlich seiende Elemente, die sie sogar noch über den Erdenrahmen hinaus in unendlichen Fernen aufsucht. Oder wir gedenken der Physik im weitesten Wortsinne, die wiederum auf ein Allerdliches ausgeht, das Erscheinen und Wirken von Kräften, aber auch wiederum mit diesen über die Grenzen des erdlichen Seins hinauszeigt. Substanzen und Kräfte des Erdlichen können in gleicher, den Gesammtplaneten berücksichtigender Allgemeinheit behandelt werden, aber nur wer dem auf Erden erscheinenden Product der kosmischen

Mächte Kraft und Stoff, dem Körperlichen der Erde in seiner Formenmannigfaltigkeit, den Blick allein zuwendete, würde ebensowohl das Erdganze nach seiner sinnfälligen Seite erschöpfen wie andrerseits über die Grenzen desselben nicht hinausschweifen. Dies wäre Erdkunde in der ganzen Schwere des Wortes und zugleich eine von allen übrigen dem Gegenstande nach verschiedene Wissensart; sie wäre damit specifisch verschieden von jeder einzelnen, auf eine Theilgruppe des Erdkörperlichen beschränkten, insofern sie die andern über andere Körpergruppen lehrenden mitbefasste, sie würde aber von den subsummirten insgesammt sich in ihren Objecten specifisch nicht unterscheiden.

Der Grundformen und danach Theilgruppen des Körperlichen auf Erden kennen wir sechs: die des Elastisch-Flüssigen in der Atmosphäre, des Tropfbar-Flüssigen im Wasser, des Gefesteten im Mineralreich, die drei organischen Stufen-Reiche der Pflanzen, Thiere, Menschen. Dies sind die sechs wahren constituirenden Erdtheile und zugleich nach höchster Wahrscheinlichkeit Repräsentanten ebensovieler Erdalter; von der Reliquie uralter Zeiten, dem planetarischen Veteran der Luft bis auf den jüngsten Spross der Mutter Erde, unser zur Herrschaft über die ältern geborenes eigenes Geschlecht. Mit diesen sechs Formenkreisen erdlichstofflichen Seins deckt sich der Erdplanet der Materie nach völlig. Ein etwaiger siebenter, der von den Physikern als Träger vielleicht aller sogenannter Naturkräfte vorausgesetzte Aether, darf als problematisch nach seiner materiellen Natur und kosmisch nach seiner räumlichen Existenz übergangen werden, ganz zu geschweigen eines achten Kreises eigenthümlicher Daseinserscheinungen auf Erden, der rein geistigen im Menschenreiche, die allerdings diesem seine Sonderstellung neben und über den fünf übrigen ertheilen. Erdkunde im höchsten Sinne des Wortes würde freilich auch diese Dinge mitbefassen, wie ja in der physicalischen Geographie factisch Aetherphänomene und in der historischen indirect das geistige Leben der Menschheit beachtet werden.

Eine Entwickelung des Begriffs der Erdkunde aus dem Wortsinne führt also zu dem schmeichelhaften Resultat, dass sie das menschliche dingliche Wissen, man könnte beinahe sagen, sammt und sonders bedeutet, insofern ja nur Weniges, was von Menschen gewusst wird, sich, wie in der Astronomie, auf Dinge ausserhalb unseres Erdenkerkers ausschliesslich bezieht. Selbst ein Wagner jedoch, der vielwissend getrost gern Alles wissen möchte, dürfte vor der Last einer solchen Polyhistorie erschrecken. Dürfen wir sie einem redlichen Forscher, der immer nur weiss, dass er nichts weiss, aufbürden? Oder haben wir den Wortsinn des Namens unsrer Wissenschaft falsch gedeutet?

Vielleicht. Unsere Sprache verbindet mit dem Wort Erde einen dreifachen Sinn, einen weitern, engern und engsten. Der erstere gilt unserem Planeten insgesammt und ist der von uns bis hierher allein in Betracht gezogene. Den engern erkennen wir in der durch Jahrhunderte währenden Proclamirung von Luft, Wasser, Erde, Feuer als den vier Elementen, wir erkennen ihn in dem noch bis heut gültigen Kunstausdruck der Geographie: Erdtheile, wir meinen ihn, wenn wir etwas ,,auf die Erde" fallen sehen, wenn wir vom Erdboden, Erdreich etc. sprechen. Erde bedeutet hier das Feste überhaupt, in den „Erdtheilen" (die auch wohl zu ,,Welttheilen" anschwellen) sogar nur das über den Ocean gehobene Feste, das Land mit seinen Einlagen des Flüssigen in Quellen, Seen, Strömen. Endlich den engsten Begriff Erde stellt die Mineralogie auf, indem sie selbst von Erden auf der Erde weiss, gewissen lockern Erscheinungsarten des Festen, wie Thonerde, Gartenerde etc.

Ist nun etwa die Erde der yɛwyqaqía, Erdkunde oder Erdbeschreibung in dem ebenerwähnten mittleren Sinne zu verstehen? Befragen wir die Geschichte unsrer Wissenschaft, so finden wir, dass dieser Begriff in der That von Anfang an bis heute, ja heut mehr als je, eine grosse Rolle in derselben gespielt hat. Aber doch nicht die einzige. Vielmehr mischte sich von jeher auch jener erstgenannte, mehrumfassende mit ein. Und sehr natürlich! Der gefestete (immer den flüssigen mitbegreifende) Bestandtheil unseres Planeten reicht nach der unbefangenen Anschauung soweit, wie dieser selbst; ob hier mit oder dort ohne Wasserbedeckung, die Erdkugel schlechtweg erscheint uns zunächst als ein einziger grosser Körper im Zustande des Starren, Festen, oder umgekehrt die gesammte, grosse Masse des Erstarrten incl. aller Gewässer deckt sich uns wie räumlich so sachlich mit dem Planeten schlechtweg. Soweit in den Tagen der Kindheit des geographischen Wissens der Blick sich erstreckte, und wie er sich auch allmählich durch Entdeckungen erweiterte, immer fielen der höhere und der niedere Begriff des Substrats der Geographie, einer y, terra, Erde etc. zusammen. Offenbar aber ist in allen Sprachen der niedere Erdbegriff, unser mittlerer, der ursprüngliche, weil der unmittelbaren Anschauung entnommen, der höhere planetarische nur durch Uebertragung entstanden. Indess wer nun die Geschichte der Erdkunde nicht kennt, würde gewaltig irren, wenn er meinte, dass dieselbe von Anfang her die Erkundigung und Schilderung des festen und des flüssigen Planetentheiles innerhalb des jeweilig bekannten Horizontes als ihre, wir wollen gar nicht sagen einzige, sondern hauptsächliche Aufgabe erkannt habe. Im Gegentheil dies ist eine Errungenschaft der neuern ja neuesten

Zeiten, vorzugsweise seit dem Wirken eines v. Humboldt und Ritter. Lassen wir das Geschichtliche beiseit und fragen wir: Gesetzt, der harte Planetentheil mit Inbegriff des flüssigen erschöpfe den eigentlichen, rechtmässigen Lehr- und Lerngegenstand der Geographie, würde diese dadurch ein ganz ihr zugehöriges, specifisches Studienobject, ein so specifisches, wie z. B. Botanik und Zoologie besitzen, gewonnen haben. Nun keineswegs. Es sind die mineralogisch-geologischen Wissenszweige, welche sofort die Hand darauf legen und der Geographie ein après nous zurufen. So finden wir die Geographie nirgends als Alleinherrscherin eines bestimmt charakterisirten erdlichen Stoffgebietes. Das Ganze des Planeten wie seine Theile sind nach den verschiedenen Neigungen menschlicher Wissbegier vergeben, die Erdkunde ging, wie der Poet bei Vertheilung der Welten, leer aus. Ihr Reich ist entweder das ErdAll oder das Nichts. Der Schluss liegt nahe, dass nicht irgend eine erdliche Dingart als solche, sondern die Behandlungsweise, sei es einer einzigen, sei es aller insgesammt ihr eigenthümliches, Wesen als einer von andern unterschiedenen Wissenschaft ausmacht. Welches ist diese Weise?

Wenn Jemand, um den vorhin besprochenen Ansprüchen der Geographie auf universales Wissen gerecht zu werden, es glücklich dahin gebracht hätte, sämmtliche überhaupt bekannten Pflanzen- und Thierarten, mehr als eine Million, von den höchsten bis zu den niedrigsten, nach ihrer systematischen Stellung und ihren physiologisehen Erscheinungen SO gründlich und erschöpfend kennen zu lernen, dass er zugleich Botaniker und Zoologe in höchster Virtuosität wäre; wenn er ferner die mineralogischgeologischen Wissenschaften in gleicher Vollendung beherrschte, er würde trotzdem noch immer kein Geograph sein. Ein Wörtchen könnte leicht alle seine Ansprüche auf diesen Titel zu Schanden machen, das Wörtlein: Wo. Dies ist die Parole, die Grundfrage der Geographie, aus der alles, was sie treibt, lehrt und lernt, erst Sinn, Richtung und Bedeutung empfängt. Dass dem so sei, lässt sich nicht mehr auf rein logischem Wege nachweisen, es muss die Betrachtung der factischen, historischen Entwickelung hinzukommen. Eine rein logische Argumentation würde Folgendes ergeben: Alles, was sinnfällig erscheint, existirt im Raum; das Wissen der Sinnendinge bedingt also nothwendig das Wissen ihrer Raumbeziehungen. Diese sind doppelter Art. Entweder wir beziehen jedes Ding nach seiner räumlichen Erscheinung auf sich selbst; damit lernen wir seine Form und Gestalt kennen, d. i. sein räumliches Wie. Oder wir beziehen jedes Ding nach der räumlichen Seite seines Seins (die uns hier, wie im ersten Falle, im Gegensatz zu der wesenhaften als äusserliche er

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